Enrico Dandolo (* um 1107 in Venedig; † 1. Juni 1205 in Konstantinopel) ist wohl der bekannteste und umstrittenste Doge Venedigs. Er war vom 1. Juni 1192 bis zu seinem Tod im Amt. Folgt man der „venezianischen Tradition“, wie meist die staatlich gesteuerte Geschichtsschreibung Venedigs umschrieben wird, war er der 41. der insgesamt 120 Dogen. Umstritten ist er wegen seiner Rolle bei der Umlenkung des Vierten Kreuzzugs (1202–1204) gegen die christlichen Städte Zara und Konstantinopel.
Dabei kam es zur Plünderung der Metropole und zur Errichtung des Lateinischen Kaiserreichs, von dem den Venezianern unter Führung Dandolos „drei Achtel“ zugesprochen wurden. Diese Eroberung gilt als Ausgangspunkt der Großmachtstellung Venedigs, aber auch als Anfang vom Ende des Byzantinerreiches. Die Ablenkung des Kreuzzugs, dessen Schiffe Venedig vorfinanziert hatte, erfolgte in drei Stufen: Um ihre Schulden zu reduzieren, eroberten die Kreuzfahrer zunächst für Venedig das christliche Zara. Gegen päpstlichen Widerstand und nach Tumulten innerhalb des Heeres fuhren die verbliebenen Kreuzfahrer von dort nach Konstantinopel, um einem zu ihnen geflohenen byzantinischen Thronprätendenten zur Herrschaft zu verhelfen. Als dieser seine großzügigen Zusagen nicht einhielt, eroberten die Kreuzfahrer schließlich die bei weitem größte christliche Stadt, ein Teil der Stadt ging in Flammen auf. Geraubte Schätze und Reliquien schmücken heute zahlreiche Kirchen Europas.
Enrico Dandolo entstammte einer der einflussreichsten Familien der Republik Venedig. Doch ist über sein Leben vor etwa 1170 fast nichts bekannt, selbst seine unmittelbaren Verwandtschaftsverhältnisse sind nur partiell geklärt. Er war mit einer Contessa verheiratet, mit der er mindestens einen Sohn hatte. Er war als Fernhändler, nach der Vertreibung der Venezianer aus der byzantinischen Hauptstadt im Jahr 1171 zudem in diplomatischen Diensten tätig.
Die Geschichtsschreibung überhöhte Dandolos Rolle als allgegenwärtiger Gesetzgeber, Organisator, Flotten- und Heerführer. Sie vereinnahmte ihn als Idealbild für Patriotismus, kriegerischen Expansionsgeist und zugleich der Selbstbescheidung durch Verzicht auf die Kaiserkrone. Oder sie verdammte ihn als rachsüchtigen oder zynischen, in jedem Falle berechnenden und heuchlerischen Verräter an der christlichen Sache, der die Umlenkung gegen Konstantinopel von Anfang an als Racheakt ersonnen hatte, obwohl der Papst die Kreuzfahrer exkommunizierte. Die Interpretationen reichen dabei von der Gelegenheit, sich für seine in Konstantinopel erlittene Blendung oder für die schlechte Behandlung der Venezianer durch die „Griechen“ zu rächen, bis zu einer Verkettung von Einzelentscheidungen, bei denen der Doge sich nur im Rahmen der venezianischen Verfassungswirklichkeit verhielt, die ihm wenig Spielraum ließ. Nach Giorgio Cracco vertrat Dandolo erst im Verlauf des Kreuzzugs immer stärker die Interessen seiner zahlreichen im Osten tätigen Landsleute und der zunehmend autonomen Eroberer eines neuen Reiches – wenn opportun, auch gegen die Mutterstadt Venedig. Jahre später erst konnte Venedig gegenüber den Eroberern seine Autorität durchsetzen.
Während Dandolo für koloniale Ambitionen gleichsam als Vorläufer vereinnahmt und die Eroberung Konstantinopels durch kulturelle und moralische Überlegenheit über die Byzantiner gerechtfertigt wurde, gelang es der Historiographie erst in der nachkolonialen und nachfaschistischen Zeit, auf Rückprojektionen soweit möglich zu verzichten. Dandolo wurde demnach erst in jüngster Zeit stärker in den Rahmen der sich verengenden Handlungsmöglichkeiten der Dogen innerhalb ihrer Gesellschaft gestellt.
Aber auch die Erzählweisen der drei Hauptquellen, die stark von französischen und byzantinischen Traditionen beherrscht sind, wurden kritisch einbezogen. Diese sind die französischsprachigen Chroniken des Geoffroi de Villehardouin – wiederentdeckt im Jahr 1541 – und des Robert de Clari sowie die griechischsprachige Chronik des Niketas Choniates. Eine Reihe von Einzeldokumenten gestattet es zudem, die ansonsten kaum belegten Taten Dandolos vor dem Kreuzzug besser einzuordnen. Dennoch ist die Integration bedeutender und zeitlich näher an den Kämpfen entstandener Dokumente bisher nur partiell gelungen. Dies gilt vor allem für Briefe, die auf scharfe Konflikte innerhalb des Kreuzfahrerheeres, aber auch auf solche zwischen den Führern des Kreuzzugs und den einfachen „Pilgern“ hinweisen. Diese Konflikte wurden durch die vier Hauptstränge der Überlieferung, die sich aus der politischen Konfliktsituation ergaben – also des byzantinischen, des venezianischen, des päpstlichen und desjenigen der Kreuzfahrer aus dem mittleren und gehobenen Adel vor allem Frankreichs –, weitgehend überdeckt. Dazu trug aber vor allem die staatlich gesteuerte, das Vorgehen Dandolos legitimierende Geschichtsschreibung Venedigs bei, die seit der Chronik des Dogen Andrea Dandolo (1343–1354) fast ein halbes Jahrtausend lang kaum noch davon abweichende Deutungen zuließ.