Ethnologische Theorien zur Gewalt

Es gibt in der Völkerkunde verschiedene ethnologische Theorien zur Gewalt, weil der Gewaltbegriff umstritten ist und es keine allgemeingültige und eindeutige Definition gibt. Die Ethnologie der Gewalt ist ein junger Forschungsbereich, eine ausführliche Theoriebildung fand erst seit den 1940er Jahren statt. Laut Nancy Scheper-Hughes und Philippe Bourgois vermieden viele Ethnologen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor allem deshalb die Untersuchung ethnischer oder indigener Gewaltformen, um durch ihre Analyse nicht das Vorurteil von der Primitivität und Brutalität indigener Völker zu stärken.[1]

Ethnologische Ansätze können auf einer etischen oder emischen Herangehensweise basieren. Bei einem etischen Vorgehen, welches sich durch eine Analyse vor dem Hintergrund westlich geprägter Wissenschaftskonzepte auszeichnet, kann eine kulturvergleichende Studie durchgeführt werden. Ein emisches Vorgehen hingegen versucht das Phänomen Gewalt mit den jeweiligen kultureigenen Begriffen und Konzepten darzustellen.[2]

Die soziale Rolle von Gewalthandlungen in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen, ihre kulturspezifischen Ursachen und Bedingungen sowie die je nach Kultur unterschiedlichen Konzeptionen von Gewalt sind zentrale Fragestellungen der Forschung.

Wichtige Themen in der ethnologischen Untersuchung von Gewalt sind Nationalität, Ethnizität, Rache, rumor and gossip (Gerüchte und Klatsch), Alkoholkonsum, Religion, Aggressivität, Kriegsführung, Suizid, Hexerei, strukturelle Auswirkungen von Gewalt sowie Gewaltlosigkeit.

Es werden unter anderem strukturelle Gewalt,[3] symbolische Gewalt[4] und physische Gewalt unterschieden. Letztere beinhaltet eine relativ eng umgrenzte Gewaltdefinition, die eine intendierte körperliche Schädigung als Grundlage hat. Trotzdem können sich auch vor dem Hintergrund einer engen Definition verschiedene Perspektiven und Bewertungen von ein und demselben Kraftakt auftun.[2] Diese Perspektivdifferenz zum Thema Gewalt greift David Riches, einer der bedeutendsten Vertreter der Ethnologie der Gewalt, in seiner Theorie des Dreiecks der Gewalt bestehend aus Täter, Opfer und Zeuge aus dem Jahr 1986 auf. Danach hängt die Definition von Gewalt letztlich von der Beurteilung der Beteiligten ab.[5]

Die Erklärung von Riches konzentriert sich auf phänomenologische und handlungsmotivierende Aspekte von Gewalt. Daneben gibt es heute eine Vielzahl von Theorien, die gewalttätige Handlungen in ihrem historischen Kontext betrachten.[6] Untersucht werden sowohl Vorbedingungen für als auch Konsequenzen von Gewaltakten.

Narrative Ansätze neigen dazu, Beweggründe für Gewalt zu erklären, sie zu legitimieren und Menschen damit letztendlich zur Ausübung von Gewalt zu motivieren.[7]

Weiterhin wird zwischen individueller und kollektiver Gewalt unterschieden. Wird Gewalt auf das Individuum bezogen untersucht, liegt der Fokus auf der subjektiven Erfahrung. Bei kollektiver Gewalt sind die Folgen einer als gewalttätig aufgefassten sozialen Handlung entscheidend.[8]

  1. Nancy Scheper-Hughes, N. Bourgois, Philippe Bourgois (Hrsg.): Violence in War and Peace (An Anthology). In: Blackwell Readers in Anthropology. Band 5, Blackwell, Malden 2005, S. 6.
  2. a b G. Elwert: Sozianthropologisch erklärte Gewalt. Internationales Handbuch der Gewaltforschung. W. Heitmeyer and G. Albrecht. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, S. 336–337.
  3. Anmerkung: Wurde ausführlich diskutiert von Paul Farmer, Philippe Bourgois und Nancy Scheper-Hughes, obwohl der Begriff ursprünglich durch den Politikwissenschaftler Johan Galtung geprägt wurde; vergleiche Nancy Scheper-Hughes, N. Bourgois, Philippe Bourgois (Hrsg.): Violence in War and Peace (An Anthology). In: Blackwell Readers in Anthropology. Band 5, Blackwell, Malden 2005.
  4. Schmidt 2001, S. 6: „Symbolic dimension of violence may also backfire against its perpetrators and make it contestable on a discursive level not as a physical but as a performative act“; Bourdieu: Symbolic Violence. 1977: „[…] inherent but unrecognized violence that is maintained and naturalized within systems of inequality and domination.“ Zitiert in: Antonius C. G. M. Robben, Marcelo M. Suárez-Orozco: Cultures Under Siege. Collective Violence and Trauma in Interdisciplinary Perspectives. Cambridge University Press, New York 2000, S. 249.
  5. David Riches (Hrsg.): The Anthropology of Violence. Blackwell, Oxford u. a. 1986, ISBN 0-631-14788-8, S. ??.
  6. Pamela J. Stewart, Andrew Strathern: Violence – Theory and Ethnography. Continuum, London u. a. 2002, S. 10.
  7. Pamela J. Stewart, Andrew Strathern: Violence – Theory and Ethnography. Continuum, London u. a. 2002, S. 152.
  8. Bettina E. Schmidt, Ingo W. Schroeder: Anthropology of Violence and Conflict. Routledge, London 2001, S. 18 (European Association of Social Anthropologists).

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