Als Helvetismus (neulateinisch Helvetia ‹Schweiz› und -ismus) bezeichnet die deutsche Sprachwissenschaft zwei miteinander nicht direkt verwandte Phänomene:
- «Helvetismus» im Sinne der Variationslinguistik bezeichnet jene sprachliche Besonderheiten, die typischerweise im Schweizer Hochdeutsch und nicht im gesamten deutschen Sprachgebiet verwendet werden (Beispiel: Nüsslisalat, parkieren).[1] Dabei werden laut Ulrich Ammon drei Typen unterschieden:[2]
- spezifischer Helvetismus: Das Vorkommen beschränkt sich auf die Schweiz, zum Beispiel Morgenessen, Traktandum.
- unspezifischer Helvetismus: Das Vorkommen beschränkt sich auf die Schweiz sowie Teile des weiteren deutschen Sprachgebiets, zum Beispiel Abgeltung (Schweiz und Österreich), Fahrzeuglenker (Schweiz, Österreich und Süddeutschland).
- Frequenzhelvetismus: Das Vorkommen ist in der Schweiz sehr viel ausgeprägter als in anderen deutschsprachigen Gebieten, zum Beispiel kassenpflichtig, Jungmannschaft, Kochbutter (diese kommen auch in Deutschland vor, sind dort allerdings kaum gebräuchlich)
- «Helvetismus» im Sinne von Wörtern, die ursprünglich aus dem Deutschschweizer Sprachgebiet stammen und heute im gesamten deutschen Sprachgebiet verwendet werden (Beispiele: Müsli, Putsch) – analog zu Begriffen wie Anglizismus – bezeichnet Wörter, die aus dem schweizerischen Deutsch stammen und ins Gemeindeutsche übernommen wurden (vgl. Liste weiter unten; siehe auch: Lehnwort).
Unter «Helvetismus» versteht man nicht allein typische schweizerische Wörter (Lexeme), sondern auch die Besonderheiten im Bereich von Wortbildung, Wortbeugung, Satzbildung, Rechtschreibung und Aussprache.[3][4] Manchmal wird die Bezeichnung Helvetismus auch nur für Wörter verwendet.[5]
Die in Lexika und Wörterbüchern zum Schweizerhochdeutschen festgehaltenen Helvetismen sind Bestandteil der Schweizer Standardsprache. Es handelt sich dabei um Wörter, die in Texten, die in der Schweiz verfasst oder publiziert werden, als angemessen und korrekt gelten. Naturgemäss können weniger formelle journalistische und literarische Texte zu einer grösseren Nähe zu den schweizerdeutschen Dialekten tendieren; derart verwendete, alemannisch basierte Wörter haben mehr umgangssprachlichen oder mundartnahen Charakter und stellen damit Grenzfälle des Standards dar.[6] Für die Neuerarbeitung des Variantenwörterbuchs des Deutschen, die 2016 erschien, wurden drei «Säulen» definiert, auf denen die Einstufung der Standardsprachlichkeit eines Lemmas beruht, nämlich erstens die Häufigkeit in «Modelltexten» (regionale und überregionale Zeitungstexte), zweitens die Einschätzung von Sprachexperten hinsichtlich der standardsprachlichen Akzeptanz und drittens das Auftreten in aktuellen Nachschlagewerken. Solche Wörter, deren Gebrauchsfrequenz zwar einen definierten Schwellenwert erreichte, die jedoch nur in bestimmten, der Mündlichkeit nahestehenden Textsorten oder etwa hauptsächlich zwischen Anführungszeichen auftraten, erhielten den Zusatz «Grenzfall des Standards» – vergleichbar mit der Markierung «mundartnah» in der Publikation Schweizerhochdeutsch von 2012/2018 und der Markierung «mundartl[ich]» im Schweizer Wörterbuch von 2006.[7]
Ein beträchtlicher Teil der Helvetismen hat seine Basis darin, dass die Schweiz und ihre Kantone eigenständige Staatswesen sind, die eine eigene, von derjenigen der Bundesrepublik Deutschland und von Österreich unabhängige Rechts- und Verwaltungssprache kennen. Ein weiterer Hauptfaktor ist die landschaftliche Zugehörigkeit zum alemannischen Raum, die sich nicht nur in der Mundart niederschlägt (Beispiele für Wörter, die aus dem Schweizerdeutschen in die Schweizer Schriftsprache gelangt sind, sind etwa Beiz, Guetsli/Guetzli, Metzgete, Rande und Rüebli), sondern die auch seit jeher die Deutschschweizer Literatursprache prägt. Infolge der Mehrsprachigkeit der Schweiz sind auch Einflüsse aus dem Französischen unübersehbar, hierzu gehören Entlehnungen wie Poulet und Coiffeur. Etliche französischstämmige Wörter im schweizerischen Deutsch wie etwa Trottoir oder Perron waren früher allerdings gemeindeutsch, wurden jedoch in Deutschland und Österreich seit dem späten 19. Jahrhundert durch bewusste Germanisierungen verdrängt.[8] Ein eher konservatives Element sind auch die der Schweizer Sportsprache eigenen englischen Ausdrücke wie Goalie und Penalty, die im übrigen deutschen Sprachgebiet längst vom einheimischen Wortschatz abgelöst worden sind.
Analog zu Helvetismen gibt es auch Austriazismen, Belgizismen und Teutonismen (auch missverständlich Germanismen genannt), welche die jeweilige nationale Varietät prägen.
- ↑ Schweizerische Bundeskanzlei (Hrsg.): Schreibweisungen. Weisungen der Bundeskanzlei zur Schreibung und zu Formulierungen in den deutschsprachigen amtlichen Texten des Bundes. 2., aktualisierte Auflage 2013 (korrigierte Ausgabe 2015). 2015, Helvetismen 3.6, S. 61 ff. (admin.ch).
- ↑ Ulrich Ammon: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1995; zur Terminologie etwa S. 61–73. Die Beispiele stammen aus dem Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Hrsg. von Ulrich Ammon, Hans Bickel, Alexandra N. Lenz. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin 2016.
- ↑ Ulrich Ammon: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Walter de Gruyter, Berlin / New York 1995; hier bezüglich der Schweiz 251–282. Auch die meisten der unten in der Bibliographie genannten Helvetismensammlungen decken nicht allein den Wortschatz, sondern auch Aussprache, Grammatik und Rechtschreibung ab.
- ↑ Urs Bühler: Vorzüge einheimischer Sprachkost: Ein Lob auf die Helvetismen In: Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2017
- ↑ Die Sprachwissenschaftlerin Christa Dürscheid beispielsweise verwendet den Begriff ausschliesslich zur Bezeichnung lexikaler Besonderheiten; vgl. Christa Dürscheid: Ist Standarddeutsch in der Schweiz eine Randerscheinung? In: Neue Zürcher Zeitung, 16. Januar 2007.
- ↑ Hans Bickel, Christoph Landolt: Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl. Hrsg. vom Schweizerischen Verein für die deutsche Sprache. Dudenverlag, Berlin 2018, S. 7.
- ↑ Vgl. Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Hrsg. von Ulrich Ammon, Hans Bickel, Alexandra N. Lenz. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin 2016 S. XII–XVII; in aller Ausführlichkeit sodann Hans Bickel, Lorenz Hofer, Sandra Suter: Variantenwörterbuch des Deutschen (VWB) – NEU. Dynamik der deutschen Standardvariation aus lexikografischer Sicht. In: Roland Kehrein, Alfred Lameli, Stefan Rabanus (Hrsg.): Regionale Variation des Deutschen. Projekte und Perspektiven. De Gruyter, Berlin/Boston 2015, S. 541–562.
- ↑ Das Fremdwort – Lesenswertes und Interessantes. (PDF; 1,5 MB) Neun Beiträge zu Geschichte, Funktion und Gebrauch des Fremdwortes aus dem Buch Duden – Das Fremdwörterbuch; 10. Auflage. In: Duden – Das Fremdwörterbuch. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 22. März 2019; abgerufen am 6. August 2014 (siehe vor allem das Kapitel Fremdwörter als Spiegel der Kulturgeschichte auf S. 32–33).