Tibetische Herrscherurkunden sind in der tibetischen Schriftsprache abgefasste Schriftstücke, mit denen ein Rechtsgeschäft vollzogen oder bezeugt wird und die im Auftrag eines Herrschers ausgefertigt wurden.
Diese Gruppe von Urkunden beinhaltet die Gewährung und Bestätigung von bestimmten Vorrechten (Steuerfreiheit, Weiderechte, Landbesitz etc.) für Einzelpersonen, Familien, religiöse Einrichtungen (z. B. Klöster) und regionale soziale Gruppen (z. B. Adelsfamilien, Bewohner eines bestimmten Ortes, bestimmte Gruppe von Viehzüchtern) durch den jeweiligen Herrscher. Sie werden deshalb nach ihrem Urheber als „Tibetische Herrscherurkunden“ (tib.: bka´ shog, she bam, gtan tshig) bezeichnet.
Die andere Gruppe von tibetischen Urkunden betrifft Verträge zwischen Privatpersonen, sozialen Gruppen (z. B. Einwohner verschiedener Dörfer, Gruppen von Viehzüchtern) und religiösen Einrichtungen (Klöster). Sie werden als „Tibetische Privaturkunden“ (tib.: gan rgya, khra ma) bezeichnet.
Eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Urkundenarten nimmt der Tibetische gerichtliche Vergleich (tib.: dpyad mtshams) ein, bei dem sich streitende Parteien unter Vermittlung eines Vertreters des Herrschers (Regierungsangehöriger) auf einen bestimmten Sachverhalt rechtlicher Art einigen und diesen Vergleich in einer Urkunde schriftlich festhalten und durch Untersiegelung bezeugen.
Tibetische Urkunden sind streng zu unterscheiden von Tibetischen Gesetzen (tib.: khrims yig), die zuvörderst Entschädigungsleistungen bei Diebstahl, Raub und Totschlag (Kompensationsrecht) und Strafvorschriften bei Verbrechen gegen den Staat und Religiöse Einrichtungen enthalten, und von tibetischen Verordnungen (tib.: rtsa tshig), die Verhaltensvorschriften für bestimmte Landesteile Tibets und Gruppen von Amtsträgern enthalten.
Eine besondere Gruppe von Urkunden bilden Vorschriften zu Verhaltensweisen in Klöstern (tib.: bca´ yig), die meist auf hohe Geistliche zurückgehen, gelegentlich aber auch von weltlichen Herrschern ausgefertigt wurden.
Die Summe aller vorstehend genannten rechtlichen Vorschriften wird als Tibetisches Recht bezeichnet.
Alle hier behandelten Sachverhalte beziehen sich auf die Rechtsverhältnisse in Tibet vor 1960.
Danach wurden Rechtsverhältnisse durch den Terror der chinesischen Kulturrevolution und die Neuordnung innerhalb der Volksrepublik China völlig neu definiert.